Als Frau hieß er Anke

Sonntag, März 18, 2007

Letzte Runde

Das Stimmengewirr dringt schon durch die geschlossene Tür heraus auf die Straße. Es ist eine wettergegerbte Holztür, einladend und ein bisschen knorrig.
Kaum drückt man die Klinke nach unten, so schwillt das Gewirr an und die Kneipe vereinnahmt, verschluckt den Ankömmling. Rauchschwaden wabern unter den dämmrigen Lampen an der Decke. „Kissed a girl by the factory wall...“, die Dubliners aus den Boxen übertönen die Gespräche gerade so, „... dirty old town.“



Hinten an der Wand steht die große hölzerne Theke. „Dreamed a dream by the old canal...“. Uralte Holzbalken biegen sich darüber, geschmückt mit unzähligen, über die Jahre gesammelten Kleinoden. Viele schon fast bis zur Unkenntlichkeit vergilbt, zeugen sie von einer anderen Zeit, erzählen kleine und große Geschichten, bewahren Erinnerungen, die hier schon oft bei dem ein oder anderen Whiskey besprochen wurden. „... dirty old town.“
An der Theke sitzt der Typ aus dem Stadion und erzählt von seinen berüchtigten Bananenflanken. Scharf vors Tor müssten sie kommen, durchgehen zur Grundlinie und dann ‘rein, in der Mitte müsse dann nur noch einer den Kopf hinhalten.
Er spielt schon lange nicht mehr. Grüßend hebt er sein Glas.

Der Kellner läuft zu dem Tisch vor dem kleinen Mauervorsprung. Eigentlich ist er hier der Barkeeper aber besonderen Gästen bringt er das frisch gezapfte Dunkle schonmal selbst an den Platz. Der Kerl mit dem Anzug kommt oft her. Die Krawatte ist gelockert und hängt ein wenig schief über das leicht zerknitterte Hemd. Er mag die Menschen hier, und er mag, dass hier keiner Rosa trägt. Den ganzen Tag über sieht er rosa Hemden, rosa Krawatten, rosa Krägen und findet sie furchtbar! Er muss dann immer lächeln, ‚kann man doch einfärben‘, hieß es früher immer: ‚Pulli zu grau? Macht doch nix, kann man doch einfärben.‘ Auch er hebt sein Glas und winkt herüber.

„Wie immer?“ Man kennt sich immernoch. Ich muss lächeln, kein Bockbier, kein Whiskey, das wird entweder nicht vertragen oder nicht gemocht. „Ja, wie immer. Ein Weizen, ein Pils und ein Dunkles, bitte.“
In der Ecke vorne an dem winzigen Fenster sitzen die anderen. Einer kommt später noch. Wir fangen schon an, der Fehlende braucht immer ein wenig Vorlaufzeit, das kann also dauern. Er wollte nachkommen.
Der Blick schweift über die Gaststube und ich habe das Gefühl, jede Kerbe im Holz zu kennen. „Prost Jungs!“ Ein tiefer Schluck, eine tiefe Zufriedenheit. Lichter flammen auf und bald steht auch bei uns eine dichte Rauchwolke unter der schummrigen Lampe. Man könnte ewig so hier sitzen.

Bis tief in die Nacht genießen wir die Zeit und die Biere. Die Wolke um die Lampe hat sich zum Nebel ausgeweitet aber das stört überhaupt nicht, im Gegenteil, das gehört einfach dazu. Es ist spät geworden und nur der engste Kreis ist noch da.



I must away now, I can no longer tarry..“, die Musik muss jetzt kein Stimmengewirr mehr übertönen, „..This morning's tempest I have to cross.“
Zum Ausklang das Bühnenvermächtnis, wie passend. In Gedenken an Luke Kelly, Prost. Er hätte gut hier her gepasst, auf die kleine Erhöhung auf der anderen Seite, die als notdürftige Bühne dient. „I must be guided without a stumble.. “, still heben die verbliebenen Gäste die Gläser, „..Into the arms I love the most“. Das waren seine letzten Worte auf der Bühne. Das war sein letzter Song.

Es regnet immernoch leicht. Es fröstelt und so ziehe ich den Schal ein wenig enger. Ich schließe die uralte, knorrige Holztüre. Wäre mein Schal aus Holz, auch er wäre inzwischen knorrig. Viele Jahre alt und fürsorglich gestrickt, damit der Junge auf dem blauen Fahrradsitz, hinten auf dem Gepäckträger des rotbraunen Hollandrades, nicht fror.
Blauer Schal, rote Daunenjacke, so ging es damals auch zum Kastanien sammeln – oder Nüsse.
Unwillkürlich muss ich lächeln, ziehe den Schal enger und den Kragen meiner Jacke hoch. Der Regen hat nachgelassen, aber noch immer verschlucken die nassen Straßen die wenigen Lichter. Ich bleibe noch einen Moment unter dem kleinen Dach über der Eingangstüre stehen und schaue in die Nacht.
Bestimmt vier Jahre lang kam ich ständig her und nun bin ich schon lange nicht mehr hier gewesen. Mir ist vorhin beim Hineingehen gar nicht aufgefallen, dass das alte Namensschild aus Emaille mit dem verzierten „Chanma“ ganz windschief über der Tür hängt. Ein eigenartiger Name für ein Lokal eigentlich, komisch, dass ich mich nie wirklich darüber gewundert habe. Wenn man ganz genau hinsieht und ein wenig den Staub wegwischt, dann könnte es auch „Ch.an.ma.“ heißen, aber was macht das schon für einen Unterschied?

And into the river we'd dive..“. Durch das gekippte Fenster dringt Springsteen, das Klirren der Spühle und das kratzende Geräusch des alten Besens hinaus auf die Straße. „Letzte Runde“ und „Feierabend“ hieß es schon vor über einer Stunde, aber niemand käme hier auf die Idee, es zu genau zu nehmen. Man kennt sich, man mag sich. Man sitzt gern zusammen, auch nach der letzten Runde noch. „Oh down to the river we'd ride.“



Ich stecke die Hände in die Taschen, laufe durch den nieselnden Regen und summe, „Is a dream a lie if it don't come true...“. Ganz dort hinten sind ein paar wenige Löcher in die dicke, dunkle Wolkendecke gerissen, „...or is it something worse...“. Auf der Straße ist kein Mensch zu sehen. Keine Seele unterwegs, „...that sends me down to the river...“. Ich habe den Eindruck, als wäre es rund um die aufgerissene Wolkendecke heller als hier, dabei ist es tiefste Nacht, „...though I know the river is dry...“.
Eine alte Zeitung weht über die Straße und bleibt an einem Laternenpfahl hängen.
Ich laufe durch die leergefegten Gassen hinunter zur Brücke, die den Fluß überspannt. Es ist eine alte stählerne Konstruktion, bestimmt fünfundsiebzig Meter hoch und mit schönen, geschwungenen Bögen.
„...that sends me down to the river tonight“, summe ich und laufe am Geländer entlang ins Dunkel.