Als Frau hieß er Anke

Samstag, Dezember 09, 2006

Zwei Schokocroissants, ein Mehrkorn- und ein Mohnbrötchen

Wenn es einem so geht, dann darf man das. Sowas ist dann einfach ok.
Rein äusserlich sieht man eher schlecht aus, wie man da so steht zwischen all den frischen Waren, den frischen Menschen und den freundlichen Bediensteten.
Man würde eigentlich annehmen, dass sie einen gleich rauswerfen, dass die Umstehenden sich angewidert abwenden oder die Verkäuferin einem unter der Hand etwas zusteckt - in der Hoffnung, man würde ohne großes Aufsehen wieder verschwinden.
Aber dem ist mitnichten so. Im Gegenteil.
Die wissen es, sie müssen es einfach irgendwie wissen, sonst wären sie anders. Sie würden sich sonst dem Aufzug entsprechend verhalten, mit dem man hier im Laden steht, wie es unpassender eigentlich gar nicht geht.
Der fesche Anzugträger hinter mir mustert sicher gerade die zerzausten Strähnen, die ein wenig schimmernd unter der Kapuze hervorstehen. Vielleicht konzentriert er sich auch auf das zerknitterte T-Shirt, das unter dem Pulli heraushängt.

Die alte Dame vor mir in der Schlange lächelt mir zu, als sie den Laden verlässt.
Das Outfit kann es nicht sein, ich muss aussehen, als ob ich kein zu Hause hätte oder als hätte ich seit Monaten die Wasserrechnung nicht mehr bezahlt.
Und doch scheint jeder anzuerkennen, dass ich das darf.
Man darf es einfach, wenn es einem so geht.
Irgendwie unwillkürlich fasst man sich an die Mundwinkel. Sind die Züge verrutscht?! Denkt die Oma vielleicht, ich wäre auf Droge und hätte vergessen, dass um 11 Uhr ausser mir auch noch andere Leute auf der Straße sind?!
Etwas in der Art muss sie denken - sie weiß es und sie kennt es.

So, Gesichtszüge schnell überarbeitet und zurechtgerückt.
Zwei Verkäuferinnen fragen mich gleichzeitig, ob ich etwas haben möchte.
Ob ich noch etwas haben möchte? Hmm, gute Frage, mir fehlt gerade gar nichts, alles da - nein, im Moment brauche ich eigentlich nichts.
"Der junge Mann ist vor mir dran", höre ich aus dem Off. Der Anzugtyp hinter mir deutet lächelnd auf mich und die beiden Verkäuferinnen schauen mich noch immer fragend an.

Der Typ interessiert sich in der Tat keine Spur für meinen eigenartigen Auftritt. Statt hektisch auf die Uhr zu blicken und sich wegen akkutem Termindruck vorzudrängeln, deutet er grinsend auf mich, wartet und erkennt anstandslos an, dass ich sowas einfach darf.

Es stehen immernoch beide Verkäuferinnen da. Wieso bedient nicht eine schonmal den Anzugtyp?
Also gut, eine Kleinigkeit würde ich natürlich schon nehmen, deshalb bin ich ja hier. Blöderweise habe ich auf die Frage ja nun schon geantwortet, dass ich nichts bräuchte - oder...?
An die Verkäuferin gerichtet beginne ich meine Bestellung also mit "doch, ich nehme doch etwas...".
Die Mundwinkel der Verkäuferinnen bewegen sich leicht nach oben. Sie können es sich kaum verkneifen und da läuft auch schon der Film in ihren Gesichtern an. Die Blicke sagen alles. Sie fragen sich sicher, warum dieser schäbig aussehende Kunde, der eindeutig so aussehen darf, die Frage "Was darfs denn sein?", mit "Doch, ich nehme doch etwas" beantwortet...

"Ich hätte gerne zwei Schokocroissants, ein Mehrkorn- und ein Mohnbrötchen.... Ja, bitte die Schokocroissants mit Schokorand.... Danke."
Warum bloss mag es die Schokocroissants mit und ohne Schokorand geben? Wer kauft denn ein Schokocroissant bewusst ohne Schokorand?

Beim Hinausgehen werfe ich nochmal einen Blick in den Laden - die Verkäuferinnen sind beschäftigt, der Anzugtyp nimmt drei Wasserbrötchen und ein Käse-Pudding-Stück mit Früchten. Für mich interessiert sich niemand mehr - bin mir nicht ganz sicher, ob ich noch in der gleichen Welt bin wie eben und kontrolliere deshalb kurz die Tüten in meiner Hand: Zwei Schokocroissants, ein Mehrkorn- und ein Mohnbrötchen, alles da.

Ich stehe an der Fußgängerampel, auf der anderen Straßenseite wartet ein Mädel - sie lächelt. Grün. Da, sie lächelt schon wieder - flirtet die mich gerade an oder lacht sie wahlweise über meine hilflos unter der Kapuze verstecken zerzausten Haare, das T-Shirt, das ich schon zum Schlafen anhatte oder den kontrollierenden Blick in die Bäckereitüten?!
Keine Frage, sie weiß es. Sie weiß, dass man es darf, wenn es einem so geht.

Ich lasse die Haustür hinter mir, mache die Wohnungstür auf - und einen Augenblick später weiß ich genau, dass man es mir jetzt ansieht.
Ja, mir geht es eindeutig so. Ich darf das also.
Ich merke, wie sich dieses Lächeln wieder um die Mundwinkel gräbt- dieses Mal rücke ich nichts zurecht, lasse es einfach da und helfe ihr beim Tischdecken.